Rezension Khunu Lama Tenzin Gyaltsen: Allen ein Freund sein – die Poesie des Erleuchtungsgeistes
„Bodhicitta, der „Erleuchtungsgeist“, ist die altruistische Motivation, zum Wohle aller Lebewesen Erleuchtung erlangen zu wollen und als solche ein Grundpfeiler des Mahayana-Buddhismus. Im tibetischen Buddhismus wird der Entwicklung von Bodhicitta theoretisch höchste Priorität eingeräumt, doch sind keineswegs alle Tibeter Bodhisattvas (ernsthaft nach Buddhaschaft Strebende). Jürgen Manshardt hat mit sehr viel Mühe und Zeitaufwand das Leben und Werk von Khunu Lama Tenzin Gyaltsen erforscht, der wohl einer der wenigen echten Bodhisattvas des 20. Jahrhunderts war. Um 1895 in Ladakh/Nordindien geboren, widmete er sein ganzes Leben einzig und allein dem Studium und der Meditation, wobei er unparteiischen Forschergeist mit intensiver Meditationspraxis verband, „ohne sich dabei durch Titel, Lehrämter, materielle Interessen, Prestige oder ein stark reglementiertes Klosterleben binden zu lassen“ (S. 24).
Trotz seines ärmlichen und bescheidenen Auftretens erwarb er sich Ansehen und Verehrung als Gelehrter und Lama; nach 1959 wurde er zu einem wichtigen Lehrer des XIV. Dalai Lama. Dieser außergewöhnliche Mann, der sich nicht scheute, neben seiner Dzogchen-Praxis auch Hatha-Yoga zu erlernen und mit Hindu-Pandits zu diskutieren, starb 1977. Der von Manshardt akkurat übersetzte Text „Die juwelengleiche Leuchte“ (356 Verse) steht in einer langen Tradition von Lobpreisungen des Bodhicitta, wie wir sie etwa von Shantideva her kennen. Da der Text nicht so sehr erklärt, was Bodhicitta ist, sondern seine Qualitäten und Resultate im Stil der altindischen Dichtung verherrlicht und eine gründliche Kenntnis der buddhistischen Lehre voraussetzt, ist er für den unvorbereiteten westlichen Leser schwer zugänglich und wirkt hermetisch verschlossen. Manshardt hat daher versucht, in einer hundertseitigen Einführung die traditionellen Aussagen zu Bodhicitta zusammenzustellen, was ihm auch sehr gut gelungen ist; man hätte sich nur gewünscht, dass er auch einen Bezug zu unserer westlichen Kultur und Lebensweise hergestellt hätte. Auf die ausführliche Biographie von Khunu Lama, die Manshardt vorbereitet, darf man gespannt sein. Für die Leser, die mit dem tibetischen Buddhismus bereits vertraut sind und sich beispielsweise mit dem Lamrim beschäftigt haben, ist dieses Buch als vertiefende Lektüre überaus empfehlenswert.“
Thomas Lautwein in Buddhismus Aktuell, Ausgabe 1/2005, S. 60